Gefühle

Neben dem rationalen Verstand gibt es in der Psyche eine zweite Form der Verhaltenssteuerung, die aber mit der Entwicklung des Verstandes weitestgehend aus ihrer Funktion gedrängt wurde. Sie basiert auf emotionalen Informationen, welche inner-psychisch wahrnehmbar sind. Der Begriff der emotionalen Informationen meint eine große Bandbreite, von denen die klassischen Gefühle nur eine spezifische Ausprägung bilden. Die Bandbreite reicht

Oberflächlich betrachtet drücken Emotionen eine Ja / Nein - Information aus:

Tatsächlich aber repräsentieren sie eine Form unendlich viel komplexerer nicht-rationaler Information. Nicht-rational bedeutet dabei, dass sie sich rational zwar irgendwie mehr schlecht als recht beschreiben, aber nicht präzise und schon gar nicht vollständig ausdrücken lassen. Das ist aber auch nicht nötig, denn es ist ja nicht der Verstand, der sie verarbeiten muss. Vielmehr sind dafür die nicht-rationalen Teile der Psyche zuständig.

Die Begriffe Gefühle und Emotionen werden im Folgenden synonym für alle Formen emotionaler Informationen verwendet.

Gefühle drücken eine Übereinstimmung mit etwas aus - sie beziehen sich auf etwas. Das, worauf sie sich beziehen, bezeichne ich als Bezugssystem. Jedes Gefühl kann einem solchen Bezugssystem zugeordnet werden. Die Bezugssysteme ergeben sich aus dem Grundmodell der Interaktion:

Eine Interaktion besteht aus 3 Komponenten:

  1. Absicht des Ich
  2. Aktion des Ich
  3. Reaktion der Welt

Die Gefühle sind ein Instrument der Verhaltenssteuerung des Ich. Sie bilden für das Ich die Grundlage, um Verhaltensentscheidungen zu treffen. Die Verhaltensentscheidungen müssen so getroffen werden, dass die Interaktionen erfolgreich sind. Eine Interaktion ist erfolgreich, wenn alle 3 Komponenten einer Interaktion den Interessen des Ich entsprechen:

  1. Die angestrebte Absicht stimmt mit dem inneren Potential des Ich überein.
  2. Die dafür nötige Aktion des Ich ist etwas, was das Ich auch tatsächlich tun will.
  3. Die Reaktion der Welt entspricht der Absicht des Ich (Erfüllung).

An dieser Stelle ist es wichtig, den Unterschied zwischen Absicht und Aktion zu verstehen:

BEIDES geht aus dem Ich hervor und kann in einer konkreten Interaktion mit den Interessen des Ich übereinstimmen oder nicht,

Es gibt den gar nicht so seltenen Fall, dass für eine Absicht etwas getan wird, das man eigentlich gar nicht tun möchte. Man tut es nur, um die Absicht zu verwirklichen - zum Beispiel, wenn man einen ungeliebten Job macht, um Geld zu verdienen.

Die Gewichtung von angestrebtem Zustand und eingesetztem Verhalten ist in den einzelnen Lebensbereichen unterschiedlich verteilt. Manchmal liegt der Schwerpunkt eher darauf, etwas Bestimmtes zu erreichen, aber manchmal spielt auch eine größere Rolle, wie man dahin kommt. (Der Weg ist das Ziel.) Letzteres ist besonders ausgeprägt im Bereich der Kunst. Der Verstand ist aufgrund seiner Arbeitsweise eher ein Werkzeug, um bestimmte Zustände zu erreichen, während die Art und Weise, wie er dahin kommt, aus rationaler Sicht nebensächlich erscheint. Bei einem messbaren Zustand kann der Verstand Ist und Soll leicht beurteilen und in Übereinstimmung bringen. Ein menschliches Verhalten in seiner unendlichen Komplexität hingegen kann er nur rudimentär bzw. anhand von statischen Momentaufnahmen beurteilen. Verhalten zu beurteilen gehört zu den nicht-rationalen Aufgaben der Psyche. Das hat zu einer Reihe von Fehlentwicklungen insbesondere im Bereich der Kunst geführt: Musikproduktion ersetzt das Musizieren und der Wert eines Gemäldes spielt eine größere Rolle als die Erfahrung des Malens an sich. Das Kunstwerk als Endresultat und seine Beurteilung durch andere ist wichtiger geworden als die künstlerische Betätigung. Kunst mutiert damit zu einem schöpferischen Prozess mit festem Ziel, während sie in ihrem Ursprung eigentlich aus purer Freude an ihrer Ausübung entstand. Deshalb steht heute vor dem Ausüben einer Kunst das Erwerben bestimmter Fähigkeiten durch mühsames Üben. Das entspricht nicht dem ursprünglichen Geist von Kunst, der darin besteht, dass jeder sofort von da, wo er steht, das Glück des Künstlerseins erfahren kann.

Es gibt 3 Bezugssysteme, die den 3 Komponenten einer Interaktion entsprechen:

  1. das Potential des Ich (die Zustände, die es anstrebt)
  2. den Willen des Ich (was es für das Erreichen der Zustände tun will)
  3. die Welt mit ihren Möglichkeiten und Grenzen

Die Gefühle haben nun die Aufgabe, Interaktionen hervorzubringen, bei denen

  1. die Absichten das Potential widerspiegeln,
  2. die Aktionen vom Willen bestimmt werden,
  3. die Reaktionen der Welt die Erfüllung des Potentials bedeuten.
Interessen des IchInteraktion
Potential = Absicht (Ich)
Willen = Aktion (Ich)
Erfüllung = Reaktion (Welt)

Der Willen verkörpert die Idealform des eigenen selbst-getriebenen Verhaltens:

Man könnte den Willen auch als den dynamischen Aspekt des Potentials ansehen in Abgrenzung zum statischen Aspekt, welcher die Absichten hervorbringt (bzw. hervorbringen sollte). Die Unterscheidung ist wichtig, weil beide Aspekte ein jeweils unabhängiges Bezugssystem darstellen.

Jedes der Bezugssysteme hat seine eigenen Gefühle. Je mehr die nicht-rationalen Teile der Psyche wieder zum Leben erwachen, umso deutlicher können einzelne Gefühle dem jeweiligen Bezugssystem zugeordnet werden.

Gefühle haben die Aufgabe, Interaktionen hervorzubringen, in denen jede der 3 Komponenten in einer möglichst hohen Übereinstimmung mit ihrem jeweiligen Bezugssystem ist:

Im Kontext einer nicht-rationalen Verhaltenssteuerung ohne Verstand wäre es selbstverständlich, dass die Absichten dem Potential entsprechen und das eingesetzte Verhalten dem Willen. Es ginge dann nur noch darum, sich so weiterzuentwickeln, dass die von der Welt erzielten Reaktionen auch tatsächlich Erfüllung bedeuten. Der Verstand ist eigentlich ein Werkzeug, um die Möglichkeiten zur Erfüllung zu erweitern. Er hat sich jedoch so entwickelt, dass das Verhalten von Willen und Potential entkoppelt und durch rational errechnete Absichten und Aktionen ersetzt wurde. Die Folgen sind Sucht, Depression, Übergewicht und ADHS.

Gefühle stehen in einer wechselseitig verstärkenden Relation zum Verhalten:

Gefühle üben einen direkten Einfluss auf das Verhalten aus. Sie treiben Verhalten an oder blockieren es. Es liegt in der Natur der Gefühle, dass sie dem Verstand die Kontrolle des Verhaltens entziehen. Der Verstand hat aber im Laufe seiner Entwicklung den Anspruch hervorgebracht, das Verhalten vollständig rational zu kontrollieren. Deshalb versucht er, Gefühle so weit es nur irgendwie geht zu blockieren und auszuschalten. Paradoxerweise blockiert der Verstand nicht nur die negativen Gefühle, bei denen es ja verständlich wäre, weil sie sich unangenehm anfühlen, sondern er blockiert gerade auch die positiven Gefühle, weil sie ihm die Kontrolle über das Verhalten entziehen. Liebesbeziehungen entstehen nicht mehr spontan über persönliche Begegnung in einem aufwühlenden, alles auf den Kopf stellenden Gefühlschaos (in dem der Verstand nicht mehr viel zu melden hat), sondern online in einem streng rational reglementierten Prozess. Auf diese Weise hat der rationale Verstand die nicht-rationalen Teile der Psyche aus ihrer Funktion gedrängt. Die Funktion der nicht-rationalen Teile der Psyche hängt unmittelbar mit dem freien Fluss der Gefühle zusammen. Die Blockade der Gefühle legt die nicht-rationalen Teile der Psyche still.

Der rationale Verstand blockiert aber nicht nur die Gefühle selbst, sondern er meidet auch Verhalten und Wahrnehmungen, welche starke Gefühle auslösen. Das kann zum Beispiel bedeuten, die Begegnung mit Menschen zu vermeiden, die man eigentlich liebt.

Wenn eine konkrete Verhaltensentscheidung zu treffen ist, dann müssen alle drei Bezugssysteme "unter einen Hut gebracht werden". Dabei ist es keineswegs so, dass nun alle drei auf die gleiche Entscheidung hinauslaufen - ganz im Gegenteil. Vielmehr müssen für eine Entscheidung häufig einander widersprechende emotionale Bewertungen gegeneinander abgewogen werden. Hinzu kommt noch, dass "die Welt" in der Regel nicht nur eine Reaktion hervorbringt, sondern mehrere und dass beim Treffen der Verhaltensentscheidung unterschiedliche wahrscheinliche Entwicklungen möglich sind. So können Situationen entstehen, in denen für eine Entscheidung eine Vielzahl teilweise widersprechender Gefühle zu einer Entscheidung verarbeitet werden müssen. Und genau da spielen die nicht-rationalen Teile der Psyche ihre Stärke aus: Wo der Verstand in endlosen Schleifen das Für und Wider abwägen würde, ohne zu einem Ergebnis zu kommen, ist die Sache auf emotionaler Ebene auch in hochkomplexen Situationen glasklar. Und für genau diesen Zweck sind die Gefühle weit mehr als eine simple Ja-Nein-Informationen.

Der rationale Verstand kann mit komplexen widersprüchlichen Situationen nicht umgehen. Zum einen kann er nicht beliebig viele Informationen gleichzeitig handhaben und zum anderen hat er keine Algorithmen, um Widersprüche zu verarbeiten. Er greift sich aus komplexen Situationen irgendeinen Teilaspekt heraus und reduziert dann alles darauf oder er dreht sich im Kreis bis er förmlich durchdreht.

Der Verstand hat verschiedene Strategien, um Gefühle auszuschalten:

Die Ideen des positiven Denkens beschreiben eine rationale Methode, um der Verarbeitung negativer Gefühle aus dem Weg zu gehen. Andererseits gibt es aber auch die Angewohnheit, die Psyche übermäßig und gewohnheitsmäßig mit Negativem zu beschäftigen. Hier gilt es, den richtigen Mittelweg zu finden. Entscheidend ist, ob eine Sache sich natürlicherweise immer wieder in die Wahrnehmung drängt, weil ein Gefühl verarbeitet werden möchte. Beurteilt werden kann das nur nicht-rational.

weiter im Text: Nicht-rationale Erkenntnis