Grenzen der Rationalität

Beim Aufbau seines rationalen Modells der Realität hat der Verstand ein grundsätzliches Problem: Er kann immer nur wenige Elemente gleichzeitig verarbeiten. Die Realität ist jedoch ein unendlich komplexes Gebilde, das sich zudem auch noch kontinuierlich verändert. Deshalb musste der Verstand Strategien entwickeln, um sich mit seinem Modell der Realität überhaupt annähern zu können:

  1. Er betrachtet für die Modellbildung jeweils kleine Ausschnitte der Realität und setzt diese dann zu einem größeren Modell zusammen. (Auch hier wieder das Grundprinzip der Rationalität: Teilen und Verbinden.)
  2. Er beschränkt seine Betrachtungen auf bestimmte Aspekte der Realität, z.B. nur die Knochen, nur die Blutbahnen, nur die Nerven usw. Das bezeichnet man als Abstraktion.

All diese Maßnahmen ändern aber nichts daran, dass rationale Modelle diskret sind. Diskret bedeutet "auf eine endliche Anzahl von Elementen beschränkt". Rationale Modelle können die Realität weder vollständig noch exakt erfassen. Sie nähern sich der Realität höchstens an. Sie haben keine absolute Richtigkeit. Sie können lediglich für einen bestimmten Zweck nützlich sein. Sie sind wie Fotos, die zweidimensional eine bestimmte Perspektive der mehrdimensionalen Realität einfangen. Für eine vollständigere Betrachtung braucht es aber unter Umständen viele Fotos aus unterschiedlichen Blickwinkeln und zu unterschiedlichen Zeiten. Ich bezeichne das als die Relativität von Rationalität.

Dennoch handhabt der Verstand seine Modelle so als könnten sie auf eine absolute Weise richtig sein. Beispiele sind die Evolutionstheorie und die Urknalltheorie. Es wird sich später in diesen Ausführungen noch herausstellen, dass diese Theorien genauso "richtig" oder auch "falsch" sind wie die Schöpfungsgeschichte der Religion. Es kommt darauf an, was mit einem rationalen Modell erreicht werden soll und welchen Nutzen das Modell für den vorgesehenen Zweck tatsächlich hat. Rationale Modelle müssen sich mit den Anforderungen einer Epoche weiterentwickeln. Sie können zum Zeitpunkt ihres Entstehens nützlich sein, weil sie eine bestimmte Entwicklung ermöglichen und später werden sie zu einer Belastung, weil sie die Weiterentwicklung blockieren. Dann braucht es ein weiterentwickeltes neues Modell.

Der Irrglaube, rationale Modelle seien die Wahrheit selbst, führt zu überkomplizierten, viel zu umfangreichen Modellen. Der Zwang, Vollständigkeit und absolute Richtigkeit zu erreichen, treibt die Komplexität rationaler Modelle extrem nach oben. So entsteht in der Wissenschaft die Situation, dass nur noch wenige "Experten" verstehen, was in den einzelnen Gebieten eigentlich Sache ist. Das führt zu wesentlichen Einschränkungen:

Wenn man das Wesen von Rationalität verstanden hat, kann man mit ganz einfachen, kleinen Modellen arbeiten, die auf ganz bestimmte Ziele ausgerichtet sind und die komplexesten Zusammenhänge - sozusagen die Speerspitze des Wissens - weit verbreiten. Doch das ist gar nicht das Ziel der Wissenschaft. Experten sonnen sich gern darin, die einzigen zu sein, die das ach so komplizierte Wissen verstehen. Wenn man sich als Außenstehender zu einem Bereich äußern möchte, wie ich das zur Evolutionstheorie tue, dann wird man als erstes darauf aufmerksam gemacht, kein Experte zu sein, keine Ahnung zu haben und es eben nicht zu verstehen. Es wird einem das Recht abgesprochen, sich einer Thematik mit eigenen rationalen Modellen zu nähern und so einen anderen Blickwinkel darauf zu eröffnen. "Experten" würden auf jeden Fall die vorhandenen Modelle der Wissenschaft verwenden und sich auf keinen Fall davon abweichende eigene Gedanken machen. Die gegenwärtigen Modelle der Wissenschaft zeichnen sich aber gerade dadurch aus, dass sie einen Teil der Realität nicht erfassen können.

Der Irrglaube, rationale Modelle könnten auf eine absolute Weise richtig oder falsch sein, basiert auf der unzulässigen Verallgemeinerung eines Sonderfalls: Für einen ganz bestimmten Teilbereich der Realität kann der Verstand seine grundsätzliche Beschränkung überwinden. Der Schlüssel dazu ist die Mathematik.

weiter im Text: Mathematik und Naturgesetze